aus dem Museum der Sternwarte Kremsmünster
August 2019
In den frühen Jahren des 19. Jahrhunderts stellte sich die Frage, ob jedes Gas durch Druck oder Temperaturänderungen verflüssigt werden kann und ob es permanente Gase gibt. Im Jahre 1844 konstruierte Johann A. Natterer (1821 - 1900), ein gebürtiger Wiener, noch als Studierender der Medizin eine Vorrichtung, die es ermöglichte, Kohlensäure leicht in größerer Menge in flüssiger und fester Form herzustellen und machte seine Versuche zum Gegenstande seiner Inauguraldissertation, die in Wien im Jahre 1847 unter dem Titel Die coerciblen Gase erschien. [1] Er konstruierte dazu eine international beachtete Kompressionspumpe für hohe Drucke und es gelang ihm, damit flüssiges aber auch festes Kohlendioxid herzustellen. Dennoch scheiterte er, wie auch andere, die vermeintlichen permanenten Gase zu verflüssigen.
Sein Name ist auch mit einem Demonstrationsinstrument - der NATTERER RÖHRE - verbunden. Es ist eine versiegelte Glasröhre, die Kohlendioxid (CO2) enthält und mit der sich die Phänomene beim Phasenübergang vom gasförmigen in den flüssigen Zustand zeigen ließen. Ein tieferes Verständnis der Zustandsänderungen bestand zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Das Zustandsdiagramm von CO2 konnte erst 1869 durch Thomas Andrews (1771 - 1833) gefunden werden [2] und eine theoretische Erklärung erfolgte 1876 in der Doktorarbeit von Johannes Diderik van der Waals (1837 - 1923). Dabei zeigte sich, dass es eine Trennlinie (Dampfdruckkurve) zwischen der gasförmigen und flüssigen Phase gibt. Doch diese Linie endet bei einem kritischen Wert von Temperatur und Druck, dem KRITISCHEN PUNKT. Dieser wurde zwar schon 1822 von Charles Cagniard de la Tour (1777 - 1859) entdeckt, seine Bedeutung wurde aber erst später erkannt. Befindet sich nämlich eine Substanz oberhalb dieser Temperatur, kann ihr Gas nicht mehr durch Erhöhung des Drucks verflüssigt werden.
Die Natterer Röhre dient auch heute noch im Unterricht an Schulen und Universitäten [3] dazu, das Verhalten um den kritischen Punkt zu demonstrieren. Es wurde Kohlendioxid (genannt Acidum Carbonicum) als Substanz gewählt, weil seine kritische Temperatur bei 31°Celsius liegt und daher eine Erhöhung oder Erniedrigung der Temperatur leicht durchführbar ist. Allerdings ist die Substanz dabei unter dem hohen kritischen Druck von etwa 73 bar.
Das Set zur Demonstration bestand oftmals aus drei verschiedenen Röhren, in denen sich bei Zimmertemperatur die flüssige Phase und die gasförmige Phase (die Phasen haben unterschiedliche Dichte) im Gleichgewicht nach der Maxwellschen Regel befinden (siehe Abb. 1(a) die Punkte 1, 2 und 3). Die Volumina sind jedoch so gewählt, dass für 1 Mol Substanz das Volumen V1 kleiner, das Volumen V2 gleich und das Volumen V3 größer als das kritische Volumen Vc ist. Die Zustände von CO2 werden also formal durch die offenen Punkte 1, 2, 3 auf der Horizontalen durch die geschwungene Kurve dargestellt, [4] die mit T bezeichnet ist. Erhöht man nun die Temperatur, so steigt der Druck p bei gleichbleibendem Volumen (strichlierte Linien). Um die Demonstration vorzuführen wird die jeweilige Natterer Röhre in einem Stativ senkrecht fixiert, wie in Abb. 1(b) gezeigt. Zur Temperaturerhöhung dient heutzutage ein Föhn.
In der Natterer Röhre 1 steigt beim Erwärmen der Meniskus (die Trennungsfläche zwischen Flüssigkeit und Gas), da der Flüssigkeitsanteil zunimmt. Er bewegt sich nach oben, der Zustandspunkt verlässt das Koexistenzgebiet (unterhalb der parabelähnlichen Kurve) und gelangt in den Bereich III oberhalb der parabelähnlichen Kurve aber unterhalb der kritischen Temperatur. Erreicht die Substanz die kritische Temperatur Tc (Punkt auf der Isotherme, die mit Tc bezeichnet ist), ist die gesamte gasförmige Phase in die flüssige übergegangen. Das ganze Rohr ist dann ganz von der einen Phase im Bereich I erfüllt.
Da die Natterer Röhre 3 nur wenig flüssiges CO2 enthält, verdampft dieses beim Erwärmen, der Meniskus bewegt sich nach unten, die gasförmige Phase nimmt auf Kosten der flüssigen Phase zu. Erreicht die Substanz die kritische Temperatur Tc (Punkt auf der Isotherme, die mit Tc bezeichnet ist), ist die gesamte flüssige in die gasförmige Phase übergegangen. Sie befindet sich dann bei weiterer Erwärmung in dem Bereich I oberhalb dieser Isotherme.
Abbildung 1: (a) Das Phasendiagramm von CO2 und das Verhalten der drei Natterer Röhren für die Volumina 1 bis 3; © Skriptum Universität Zürich (b) die in einem Stativ eingespannte Natterer Röhre und der Föhn zum Erwärmen. © Jean-Michel Laffaille |
[1]
M. Bamberger, Über die Industrie komprimierter und verflüssigter Gase. Vorträge des
Vereins zur Verbreitung naturwissenschaftlicher Kenntnisse in Wien. Wien 1909
siehe auch Paolo Brenni, Johann A. Natterer (1821-1900) and His Pumps for Liquifying
Gases Bulletin of the Scientific Instrument Society No. 117, pp. 1 - 8 (2013)
[2]
Thomas Andrews, On the Continuity of the Gaseous and Liquid States of Matter
Philosophical Transactions of the Royal Society of London, Vol. 159, pp. 575-590 (1869)
[3]
Wie das Vorlesungsskript der Universität Zürich, im Internet
https://www.uzh.ch/cmsssl/physik/dam/jcr:02950d5f-b1e3-4729-885a-7db6aca8dadc/Ergaenzung_VanderWaals.pdf zeigt.
[4]
Es herrscht in allen drei Röhren bei dieser Temperatur der gleiche Druck.
[5]
Beitrag zur Theorie der Opaleszenz von Gasen im kritischen Zustande Bull. Int. Acad.
Sci. Cracovie. Classe des sciences math. et naturelles. 1911, pp. 493–502
ANDREWS, Thomas 1869: On the Continuity of the Gaseous and Liquid States of Matter
Philosophical Transactions of the Royal Society of London, Vol. 159, 575-590
BAMBERGER, M. 1909: Über die Industrie komprimierter und verflüssigter Gase. Vorträge des
Vereins zur Verbreitung naturwissenschaftlicher Kenntnisse in Wien, Wien
BRENNI, Paolo 2013: Johann A. Natterer (1821-1900) and His Pumps for Liquifying
Gases Bulletin of the Scientific Instrument Society No. 117, 1 - 8
FERRÀO, Cristina & MONTEIRO SOARES, José Paulo (Schriftl.) 2019: Natterer on the Austrian Expedition to Brazil (1817-1835), Petrópolis
NATTERER, Johann 1850: Gasverdichtungs-Versuche, in: Sitzungsberichte der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, math.-naturw. Classe, 5. Bd., Wien 351-358
SMOLUCHOWSKI, M. 1911: Beitrag zur Theorie der Opaleszenz von Gasen im kritischen Zustande in: Bulletin de L'Académie des Sciences
de. Cracovie. Classe des sciences math. et naturelles. Série A, 493–502
Programm des kaiserl. königl. Gymnasiums zu Kremsmünster für das Schuljahr 1857, Linz 1857
KRAML, P. Amand 2013: Zugänge der Lehrmittelsammlungen aus dem Bereich der Physik und Chemie veröffentlicht in den Jahresberichten des Gymnasiums, Typoskript, Kremsmünster